Jugoslawien: Bürgerkrieg

Jugoslawien: Bürgerkrieg
Jugoslawien: Bürgerkrieg
 
Das ehemalige Jugoslawien und sein südlicher Nachbar Albanien bilden einen historischen Raum an der Adria, in dem die Menschen schon seit Jahrhunderten im bunten Völkergemisch zusammenleben. Beide Länder entstammen ursprünglich der Erbmasse der Donaumonarchie und des Osmanischen Reichs. Wer auf das 20. Jahrhundert zurückblickt, stellt fest, dass hier niemals dauerhafte Ruhe einkehrte. Im Zweiten Weltkrieg okkupierten die Achsenmächte Italien und Deutschland das Gebiet. Aus den antifaschistischen Widerstandsbewegungen gingen jeweils die Kommunisten als stärkste politische Kraft hervor, angeführt von zwei Männern, die sich anschließend jahrzehntelang an der Macht halten konnten — Josip Tito in Jugoslawien und Enver Hoxha in Albanien. Dass mit dem Ableben beider die Ruhelosigkeit alsbald erneut Einzug halten würde, konnten Propheten vorhersagen.
 
Im Wendejahr 1989, als es in Jugoslawien bereits zu gären begann, herrschte in Albanien noch stalinistische Friedhofsruhe. Doch die letzte Bastion des Kommunismus in Europa überdauerte den Zusammenbruch des Ost-West-Konflikts nur kurz: 1990/91 leitete die kommunistische Staatsführung unter Ramiz Alia, seit 1985 Nachfolger Hoxhas als Parteichef, einen Reformprozess ein, der nach den Parlamentswahlen im März 1992 zu einem grundlegenden und unumkehrbaren politischen Wandel des Landes führte. Das »Armenhaus Europas« sah sich in den darauf folgenden Jahren freilich den denkbar ungünstigsten Startbedingungen ausgesetzt. Hungerrevolten, Plünderungen, Betrugsskandale sowie der Kampf um die Rehabilitierung stalinistischer Opfer diktierten hier lange den Alltag. Das Land taumelte von einer politischen und ökonomischen Krise in die nächste, wovon die vielen Flüchtlingsströme jeweils beredt Zeugnis ablegten. Albanien konnte sein Überleben mehrfach nur mittels großzügiger Hilfen aus dem Ausland sichern.
 
Mit seinem nördlichen Nachbarn »Rest-Jugoslawien« teilte das Land nach Jahrzehnten völliger Isolation auch die Verwicklung in den Kosovokonflikt: Anschwellender ethnischer Nationalismus führte in Jugoslawien 1989 zur Aufkündigung des Autonomiestatus für die serbische Provinz Kosovo. Seitdem kämpfen die Kosovo-Albaner für ihre Eigenständigkeit. Mit der Regierung in Tirana stand den nordöstlichen »Verwandten« ein ebenso behutsam wie engagiert vorgehender Fürsprecher zur Seite, während die albanische Bevölkerung zu großen Teilen offen mit der Separatistenbewegung UÇK (»Befreiungsarmee des Kosovo«) sympathisierte. Deren logistische Verfügungsräume erstreckten sich auch über den Norden des albanischen Territoriums.
 
Dr. habil. Jochen Gaile, Wiesbaden
 
 Jugoslawien nach Tito
 
Nachdem der auf Lebenszeit ernannte Präsident Jugoslawiens, Tito, am 5. Mai 1980 im Alter von 87 Jahren gestorben war, beschleunigte sich der Auflösungsprozess des jugoslawischen Bundesstaats, des zweiten gemeinsamen Staats aller Südslawen in der Geschichte. Bereits in den Sechziger- und Siebzigerjahren war die unterschwellige Bedeutung der Nationalitätenfrage erkennbar geworden, konnte von Tito durch politische Repression aber in Schach gehalten werden. Nun begann dieses Problem die gesamtstaatlichen Strukturen Schritt für Schritt zu zersetzen.
 
Die sich rasch zuspitzende Krise hatte vielfältige Ursachen und Auswirkungen. Die ökonomische Talfahrt Jugoslawiens beschleunigte sich dramatisch. Das in den Siebzigerjahren noch viel gepriesene jugoslawische Selbstverwaltungsmodell erwies sich als ökonomisches Desaster. Die Inflation stieg unaufhaltsam, der Lebensstandard sank drastisch, die Arbeitslosigkeit nahm rapide zu, und ein immer größerer Teil der Bevölkerung wurde in die Armut abgedrängt. Misswirtschaft und Korruption der Funktionäre verschärften die Krise und zerstörten die Glaubwürdigkeit der wirtschaftlichen und politischen Führungsschichten des Landes. Die drückende Auslandsverschuldung von 21 Milliarden Dollar, die mangelnde Liquidität der jugoslawischen Wirtschaft und ihr technologischer Rückstand erschwerten dabei den Weg aus der Krise. Soziale Spannungen zerrissen das Land und verschärften die Gegensätze zwischen den sechs Republiken der Föderation. Die höher entwickelten und wohlhabenderen Republiken Slowenien und Kroatien trachteten mit der Forderung nach Liberalisierung der Wirtschaft ihre Wettbewerbsfähigkeit zu erhalten oder zu verbessern, wohingegen die ärmeren Republiken dazu neigten, den Ausweg aus der Krise in einer Verstärkung des staatlichen Dirigismus und der zentralen Umverteilung von Ressourcen zu suchen. Die Folge war eine zunehmende Entfremdung zwischen den Gliedstaaten und die allmähliche Auflösung des gesamtjugoslawischen Markts.
 
Eskalation der Spannungen
 
Die auseinander strebenden Interessen der Republikeliten machten den Gesamtstaat Jugoslawien während der Achtzigerjahre zunehmend unregierbar. Die innerjugoslawischen Spannungen eskalierten spürbar, nachdem Slobodan Milošević im Mai 1986 die Führung des Bunds der Kommunisten Serbiens und ein Jahr später das Präsidentenamt der Republik übernommen hatte. Mit einer Mischung aus serbischem Nationalismus und sozialem Populismus mobilisierte er die serbischen Massen, um die durch die Verfassung von 1974 verloren gegangene Kontrolle über die autonomen Provinzen Kosovo und Wojwodina zurückzugewinnen. Nachdem er die wichtigsten Medien »gleichgeschaltet« hatte, inszenierte er mit propagandistischer Unterstützung von Schriftstellern, Historikern und der orthodoxen Kirche eine groß angelegte nationale Agitationskampagne. Die Serbische Akademie der Wissenschaften verlieh in ihrem berühmt-berüchtigten Memorandum von 1986 der Legende von der Diskriminierung der Serben in Jugoslawien eine pseudowissenschaftliche Grundlage. Die Lage der Serben in der Ära Tito sei durch wirtschaftliche Benachteiligung und staatliche Zerstückelung sowie durch Unterdrückung des in Kosovo, Bosnien und Herzegowina sowie Kroatien lebenden serbischen Bevölkerungsteils bestimmt worden. Historiker und Schriftsteller konstruierten eine jahrhundertelange Kontinuität des »Völkermords« an den Serben. In zahllosen Städten der Wojwodina, Serbiens und Montenegros wurden seit Mitte 1988 perfekt inszenierte Demonstrationen abgehalten, auf denen sich die »Stimme des serbischen Volks« immer vehementer und aggressiver erhob. Die 600-Jahr-Feier der verlorenen Schlacht gegen die Türken auf dem Amselfeld (Kosovo polje) im Sommer 1989 gestaltete sich zum Höhepunkt einer von Politikern, der orthodoxen Kirche und Intellektuellen gesteuerten nationalistischen Mobilisierungswelle.
 
Bereits zuvor, im Oktober 1988 und im Januar 1989, waren unter dem Druck der Straße die politischen Führungen der Wojwodina und Montenegros zurückgetreten und durch Milošević-treue Cliquen ersetzt worden. Gegen den neu aufflammenden Widerstand in Kosovo gingen Armee und Polizei mit äußerster Brutalität vor. Im März 1989 wurde schließlich die Autonomie Kosovos und der Wojwodina beseitigt und damit die offene Demontage des titoistischen Jugoslawien sowie der Verfassung von 1974 eingeleitet. Vier der bisher acht föderativen Einheiten beherrschten nun die Gefolgsleute Miloševićs, sodass die kunstvolle Machtbalance der Ära Tito außer Kraft gesetzt worden war.
 
Tendenzen zum Polyzentrismus
 
In den Jahren nach Titos Tod war immer deutlicher zutage getreten, dass die Verfassung von 1974, die durch Verlagerung gesamtstaatlicher Kompetenzen auf die Gliedstaaten (unter Beibehaltung des kommunistischen Machtmonopols) die Akzeptanz der jugoslawischen Föderation fördern sollte, tatsächlich das Gegenteil bewirkt hatte: Aus dem kommunistischen Zentralismus früherer Jahre war ein kommunistischer Polyzentrismus von sechs Republiken und zwei autonomen Provinzen mit jeweils eigenen Machtzentren sowie weithin abgeschotteten Wirtschaftsräumen geworden. Der Bund der Kommunisten Jugoslawiens (BdKJ), dem Tito einst die Rolle zugedacht hatte, die zentrifugalen Tendenzen auszugleichen, war von den gegensätzlichen Strömungen erfasst worden und zerfiel in ethnisch-nationale Cliquen. Lange bevor der BdKJ im Januar 1990 auseinander brach, hatte er sich bereits in sechs oder acht unabhängige Parteien aufgesplittert. Folglich taten sich die nach einem komplizierten Republikenproporz zusammengesetzten Bundesorgane mit tragfähigen Kompromissen immer schwerer, und die gesamtstaatlichen Machtstrukturen zerfielen zunehmend, eine Ausnahme bildete nur die Jugoslawische Volksarmee.
 
Alles in allem verstrichen die Achtzigerjahre düster und aussichtslos. Die wirtschaftlich-soziale Krise, die Ineffizienz des jugoslawischen Selbstverwaltungsmodells, die Verfassungskrise und die mit dem Abbau des Ost-West-Konflikts zunehmende Bedeutungslosigkeit der Bewegung blockfreier Staaten, in der Jugoslawien eine führende Rolle gespielt hatte, höhlten die vormalige Attraktivität des jugoslawischen Modells aus und entzogen dem Staat seine Legitimationsgrundlage. Die Gründungsmythen und Ideologien des titoistischen Jugoslawien wie Volksbefreiungskampf und sozialistische Revolution, Brüderlichkeit und Einheit oder gesellschaftliche Selbstverwaltung büßten nun ihre Integrationskraft ein. Der Ernüchterungsprozess spitzte sich zu einer allgemeinen Identitätskrise zu. Infolge der jahrzehntelangen Tabuisierung heikler Themen und einer weitgehend unbewältigten Vergangenheit konnten die titoistischen Grundlagen Jugoslawiens mühelos durch Nationalismen ersetzt werden. Die politische Entmündigung der Menschen durch das sozialistische Regime begünstigte die Flucht in denkbar simple Ideologien, die Halt zu geben versprachen, wo doch alles ringsherum beängstigend in Bewegung und Unruhe geraten war. Das Verlangen nach Geborgenheit, nach Solidarität und nach Wiederherstellung eines brüchig gewordenen kollektiven Selbstwertgefühls sowie das Aufbegehren gegen die Entbehrungen im ökonomischen und sozialen Bereich leisteten der Wiedergeburt der ethnischen Nationalismen kräftig Vorschub.
 
Prof. Dr. Holm Sundhaussen, Berlin
 
 Die Auflösung des Bundesstaats Jugoslawien
 
Schließlich formierten sich jene zwei Lager, die sich als unversöhnliche Hauptakteure des jugoslawischen Dramas gegenüberstehen sollten: auf der einen Seite Serbien, das für eine Rezentralisierung Jugoslawiens unter Beibehaltung der sozialistischen Gesellschaftsordnung kämpfte, auf der anderen Slowenien, das für einen lockeren Staatenbund, für politischen Pluralismus und Marktwirtschaft eintrat. Bosnien und Herzegowina sowie Makedonien versuchten vergeblich, zwischen den Kontrahenten zu vermitteln, während die kommunistische Führung Kroatiens zunächst schwieg und sich erst relativ spät auf der Seite Sloweniens in die Auseinandersetzung einschaltete. Die Einigung über eine Ausgestaltung des neuen (»dritten«) Jugoslawien rückte in immer weitere Ferne. Auf dem XIV. Parteitag des BdKJ im Januar 1990 wurden alle Anträge der slowenischen Delegation unter Leitung des Reformers Milan Kučan von der Milošević-treuen Mehrheit niedergestimmt. Die slowenischen und kroatischen Delegierten verließen daraufhin den Parteitag. Mit dessen Abbruch verschwand knapp zehn Jahre nach dem Tod der Vaterfigur Tito auch die zweite Klammer, die den Bundesstaat Jugoslawien hatte zusammenhalten sollen.
 
Nach den freien Wahlen von 1990
 
Die zunächst noch von allen Politikern vertretene gesamtjugoslawische Option trat dann aber deutlich in den Hintergrund, als die 1990 abgehaltenen ersten freien Wahlen seit 1927 in fast allen Republiken national-bürgerliche Parteien oder Koalitionen an die Macht gebracht hatten. Nur in Serbien und Montenegro konnten sich die Kommunisten behaupten. Aber hier wie dort feierte der Ethnonationalismus eine ungestüme Wiedergeburt und begrub das Konzept des ethnisch übergreifenden politischen Jugoslawismus.
 
Nach den freien Wahlen von 1990 trat der Zerfallsprozess Jugoslawiens in seine akute Phase ein. In Slowenien bedeutete der Sieg des Mitte-Rechts-Bündnisses Demos von April 1990 eine erste deutliche Beschleunigung der Verselbstständigungspolitik. Auch in Kroatien ließ der Sieg der nationalistischen Kroatisch-Demokratischen Gemeinschaft (HDZ) nur noch die Wahl zwischen Konföderation oder Sezession zu, obwohl von Anfang an klar war, dass Letzteres für das ethnisch heterogene Kroatien ebenso wie für Bosnien und Herzegowina oder Makedonien sehr viel schwerer zu realisieren sein würde als für das annähernd homogene Slowenien. Die HDZ selbst trug dabei erheblich zur Eskalation bei. Denn ihr mit nationalistischen Parolen geführter Wahlkampf musste die 600000 Serben Kroatiens zutiefst verunsichern. Der neue bürgerliche Präsident der Teilrepublik Franjo Tudjman versprach seinen Wählern die Errichtung eines starken, demokratischen und souveränen Kroatien in seinen »historischen Grenzen« — was nichts anderes hieß als: über die bestehenden Republikgrenzen hinaus. Sein viel zitierter Ausspruch »Gott sei Dank bin ich weder mit einer Serbin noch mit einer Jüdin verheiratet« rückte ihn in bedenkliche Nähe zu einem neuen Rassismus. Die in der novellierten kroatischen Verfassung vorgenommene Herabstufung der Serben vom zweiten Staatsvolk zur Minderheit und die Aufhebung der bis dahin notwendigen Zweidrittelmehrheit bei nationalitätenpolitischen Beschlüssen des kroatischen Parlaments nährten die Diskriminierungsängste der Serben und weckten Erinnerungen an den kroatischen Ustascha-Staat im Zweiten Weltkrieg.
 
Letztlich war es aber die tatkräftige politische und schließlich militärische Unterstützung der Serben Kroatiens durch die Belgrader Führung, die den offenen Konflikt unabwendbar machte. In die Defensive gedrängt, bot die kroatische Regierung den Serben kulturelle Autonomie und lokale Selbstverwaltung an und verpflichtete sich, die Minderheitenrechte zu respektieren. Aber solche Angebote verhallten in einer Atmosphäre der seit Frühsommer 1990 täglich zunehmenden Konfrontation zwischen serbischer Minderheit und kroatischem Staat. Auf die Verabschiedung einer neuen kroatischen Verfassung im Dezember 1990 reagierten die Serben in der Krajina, dem Kroatien zugehörigen Grenzgebiet zu Bosnien und Herzegowina, mit der Abspaltung von Kroatien und einem militanten Widerstand, der bald in offenen Bürgerkrieg übergehen sollte.
 
Die gescheiterte Neuordnung Jugoslawiens
 
Je unrealistischer eine Rezentralisierung Jugoslawiens wurde, desto mehr begann Milošević die Wiedergeburt eines »großserbischen Staats« zu betreiben. Die im Frühsommer 1990 verabschiedete serbische Verfassung enthielt nicht weniger nationalstaatliche Attribute als die Grundgesetze Kroatiens oder Sloweniens. Aber während Tudjman aus einer Position militärischer Schwäche heraus die Möglichkeit von Grenzrevisionen, etwa zulasten von Bosnien und Herzegowina, nur indirekt andeutete, sprach der Serbenführer Milošević ganz offen von einer Neuregelung der Grenzen, falls Jugoslawien auseinander fallen sollte. Der künftige serbische Staat müsse sich auf alle Gebiete erstrecken, in denen Serben als Mehrheit oder Minderheit leben. Die Realisierung dieses Programms bedeutete Krieg.
 
Nachdem die Verhandlungen über eine Neuordnung Jugoslawiens im Verlauf des Jahres 1990 an den unversöhnlichen Positionen der einzelnen Republiken gescheitert waren, kam es ab Dezember 1990 zu einer Reihe von Volksbefragungen, durch die die Auflösung des Bundesstaats unter Berufung auf das nationale Selbstbestimmungsrecht legitimiert werden sollte. Überall sprach sich eine überwältigende Mehrheit der Wahlbeteiligten für eine Unabhängigkeit der jeweiligen Republik aus, während die Serben in Kroatien wie in Bosnien und Herzegowina die Referenden boykottierten. Die Führungen in Serbien und Montenegro hielten am Fortbestand Jugoslawiens fest. Am 25. Juni 1991 erklärten die Parlamente von Slowenien und Kroatien jedoch die Unabhängigkeit beider Staaten. Daraufhin kam es zum Einsatz der Jugoslawischen Volksarmee gegen die slowenische Territorialverteidigung, der in Slowenien einen zehntägigen Krieg auslöste. Dieser wurde durch eine europäische Vermittlungsinitiative beendet. In Kroatien kam es seit Sommer 1991 ebenfalls zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen der kroatischen Nationalgarde und serbischen Freischärlern (Četnici), die zu einem Krieg um die serbisch besiedelten Territorien Kroatiens eskalierten. Die Bundesarmee, die sich Ende Juli aus Slowenien nach Kroatien zurückgezogen hatte, intervenierte dabei immer offener auf der Seite der serbischen Minderheit.
 
Die zahllosen Verhandlungsinitiativen der EG zur Lösung des Konflikts blieben bis Ende 1991 erfolglos. Nach dem Scheitern einer mit vielen Hoffnungen begleiteten internationalen Jugoslawienkonferenz im September desselben Jahres entschloss sich die deutsche Regierung am 23. Dezember im Alleingang zur Anerkennung von Slowenien und Kroatien, während die übrigen Staaten der EG diesen Schritt erst am 15. Januar 1992 vollzogen. Die völkerrechtliche Sanktionierung des jugoslawischen Staatszerfalls führte in der internationalen Öffentlichkeit zu heftigen Debatten. Ein Teil der Kritiker lehnte die Anerkennung Kroatiens und Sloweniens als verfrüht und konfliktverschärfend ab, während andere die Verspätung der internationalen Anerkennung kritisierten. Tatsache ist, dass die serbische Seite ungeachtet aller diplomatischen Bemühungen ihr Kriegsziel weiterverfolgte — die Eroberung aller geschlossenen serbischen Siedlungsgebiete in Kroatien und die Vertreibung der dortigen kroatischen Bevölkerung. Erst nachdem dieses Ziel erreicht war, unterzeichnete sie am 2. Januar 1992 einen dauerhaften Waffenstillstand und erklärte sich mit der Entsendung einer UNO-Schutztruppe, der United Nation Protection Force (UNPROFOR), in die umstrittenen Gebiete einverstanden.
 
Prof. Dr. Holm Sundhaussen, Berlin
 
 Bosnien und Kosovo (1992—99)
 
Im März 1992 griffen die blutigen Auseinandersetzungen auf Bosnien und Herzegowina über. Hier waren die Verhältnisse noch komplizierter als in den anderen Teilrepubliken, da keine der ethnischen Gruppen über eine absolute Mehrheit verfügte. Nach der Volkszählung von 1991 erklärten sich knapp 44 Prozent der 4,4 Millionen Bewohner als bosnische Muslime, reichlich 31 Prozent als Serben, 17 Prozent als Kroaten, knapp sechs Prozent als Jugoslawen (Offiziere, Beamte, Mischehen) und reichlich zwei Prozent als Angehörige anderer Nationalitäten. Bei den ersten freien Wahlen hatte die Bevölkerung für ihre jeweilige nationale Partei gestimmt, sodass die muslimische Partei der Demokratischen Aktion (SDA), die Serbische Demokratische Partei (SDS) und der bosnische Ableger der Kroatischen Demokratischen Gemeinschaft (HDZ) jeweils einen dem nationalen Bevölkerungsschlüssel entsprechenden Stimmenanteil erhielten. Die Führung der SDA um den Republikpräsidenten Alija Izetbegović hatte angekündigt, Bosnien und Herzegowina könne nur in einem Jugoslawien verbleiben, dem sowohl Kroatien als auch Serbien angehörten. Erst als diese Option gegenstandslos geworden war, setzte sich die SDA für eine unabhängige Republik ein.
 
Die serbische Offensive
 
Der Krieg, der die Republik noch vor der internationalen Anerkennung am 6. April 1992 erfasste, stellte in seinen Ausmaßen die Kämpfe in Kroatien bald in den Schatten. Die serbische Kriegsstrategie des bewaffneten Aufstands einer manipulierten Bevölkerung und des Einsatzes der Jugoslawischen Volksarmee unter Hinzuziehung von paramilitärischen Einheiten aus Serbien funktionierte in Bosnien noch effektiver als in Kroatien. Ende März 1992 eroberten die Serben Bijeljina sowie Zvornik und stießen von diesen beiden strategisch wichtigen Punkten an der serbisch-bosnischen Grenze in Richtung auf Banja Luka sowie die östliche Herzegowina vor. Ziel des Vorstoßes war es, Serbien durch zwei Landkorridore mit diesen beiden Hauptsiedlungsgebieten der Serben in Bosnien und Herzegowina zu verbinden, was auch gelang. Das Territorium, über das die bosnische Regierung die Kontrolle ausübte, zerfiel dadurch in mehrere ost- und westbosnische Enklaven, Zentralbosnien und die kroatisch dominierte westliche Herzegowina. Gleichzeitig schloss sich Anfang April ein Belagerungsring um Sarajevo. Die bosnischen Serben unter der politischen Führung Radovan Karadžićs kontrollierten schon im Sommer 1992 mehr als zwei Drittel der Republik. In den von ihnen beherrschten Gebieten setzten sofort »ethnische Säuberungen« ein, das bedeutete systematischer Terror, der auf Flucht, Vertreibung oder Ermordung aller nichtserbischen Bewohner abzielte und Merkmale eines Völkermords aufwies.
 
Ein Untersuchungsteam des 1993 von der UNO in Den Haag errichteten Internationalen Tribunals für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien exhumierte im September 1996 in Pilica die muslimischen Opfer des Massakers von Srebrenica (1995), bei dem ein Großteil der 8000 Personen, die nach der Eroberung Srebrenicas durch Serben spurlos verschwunden waren, umgebracht worden waren.
 
Die Volksarmee zog sich offiziell Anfang Mai 1992 aus Bosnien und Herzegowina nach Serbien und Montenegro zurück. Dabei überließ sie einen Großteil ihrer Waffen und Ausrüstung den bosnischen Serben. 60000 Soldaten und Offiziere bosnisch-serbischer Herkunft wechselten die Uniform und bildeten fortan zusammen mit 35000 Freischärlern die Armee der bosnischen Serben. Die Überlegenheit der serbischen Seite an Waffen und Ausrüstung war aufgrund dieser Tatsache gewaltig, besonders zu Beginn des Kriegs.
 
Das UNO-Engagement und die militärische Wende
 
Die beispiellose Belagerung Sarajevos, das Leid der Zivilbevölkerung und die Flüchtlingsströme schreckten die internationale Öffentlichkeit auf. »Rest-Jugoslawien« wurde aus der UNO ausgeschlossen und im Mai 1992 mit Sanktionen belegt. Im Juni desselben Jahres beschloss der UNO-Sicherheitsrat die Entsendung von UNPROFOR-Soldaten nach Bosnien und Herzegowina. Sie sollten vor allem die Zivilbevölkerung schützen und durch ihre bloße Anwesenheit die Krieg führenden Parteien zwingen, die Beschlüsse der internationalen Organisationen einzuhalten. Im Mai 1993 wurde die UNPROFOR zusätzlich mit der Überwachung der neu eingerichteten sechs UNO-Schutzzonen Sarajevo, Tuzla, Bihać, Srebrenica, Ćepa und Goražde beauftragt. Die Stationierung der UNPROFOR und das Schutzzonenkonzept erwiesen sich jedoch als wirkungslos. Die UNO-Soldaten waren nicht in der Lage, Entscheidungen der internationalen Gemeinschaft durchzusetzen und hatten auch keinen Kampfauftrag. Die Einnahme der Schutzzone von Srebrenica im Juli 1995, bei der Tausende muslimischer Männer von Soldaten der serbisch-bosnischen Armee ermordet wurden, erwies die Machtlosigkeit der UNPROFOR in aller Deutlichkeit.
 
Auch die diplomatischen Friedensbemühungen der internationalen Gemeinschaft zur Lösung des bosnischen Knotens blieben weitgehend erfolglos. Im Frühjahr 1993 brach ein muslimisch-kroatischer Krieg, eine Art Krieg im Krieg, aus. Die bosnischen Kroaten hatten bereits am 3. Juli 1992 die Kroatische Gemeinschaft Herceg-Bosna ausgerufen und bekundeten den Willen, diesen »Staat« mit Kroatien zu vereinigen. Bei der Verfolgung dieses Ziels begingen auch sie massive ethnische Säuberungen. Unter dem Eindruck der Massenverbrechen an der muslimischen Bevölkerung entwickelte sich in der Führung der SDA ein zunehmend exklusiver muslimischer Nationalismus, der Bosnien ausschließlich als Land der »Bosniaken« (der Muslime) begriff. Auch auf dieser Seite kam es nun zu ethnisch motivierten Übergriffen. Der UNO-Menschenrechtsbeauftragte Tadeusz Mazowiecki beschuldigte alle drei Krieg führenden Seiten, das Mittel der ethnischen Säuberungen einzusetzen, wies jedoch der serbischen Konfliktpartei den Hauptanteil und die Hauptverantwortung zu. Eine Gesamtlösung für Bosnien und Herzegowina fand 1993/94 nicht die Zustimmung der Kriegsparteien. Nur den kroatisch-muslimischen Konflikt konnte eine amerikanische Initiative im März 1994 beilegen. In Washington gründeten Vertreter der Bosniaken und der Kroaten die Föderation Bosnien und Herzegowina. Mostar, die von beiden Seiten umkämpfte Stadt an der Neretva, wurde unter EU-Verwaltung gestellt. Die Föderation stand allerdings nur auf dem Papier.
 
Eine grundlegende Änderung der Lage zeichnete sich erst im Frühsommer 1995 ab. Bereits im Mai hatte die kroatische Armee Westslawonien zurückerobert und startete Anfang August eine Großoffensive gegen die serbisch kontrollierten Gebiete um Knin und Glina. Innerhalb weniger Tage wurde die Krajina von den Kroaten eingenommen und ein Waffenstillstand unterzeichnet, der den serbischen Flüchtlingen freien Abzug garantierte. Über 150000 Serben flüchteten daraufhin aus der Krajina in Richtung Bosnien und Serbien. Dabei kam es zu Ausschreitungen kroatischer Soldaten und Zivilisten. Mitte August waren fast alle Serben ausder dreieinhalb Jahre zuvor proklamierten Republik Serbische Krajina geflohen oder vertrieben. Auch in Bosnien und Herzegowina bahnte sich eine militärische Wende an. Zwar konnte das serbische Militär mit der Eroberung der ostbosnischen UNO-Schutzzonen Srebrenica und Ćepa im Juli einen letzten Erfolg erringen, aber die militärische Kooperation zwischen bosnischen Regierungstruppen und kroatischer Armee im Nordwesten Bosniens veränderte die militärische Lage innerhalb weniger Wochen von Grund auf. In gemeinsamen Offensiven erzielten kroatische Truppen und die bosnische Regierungsarmee bedeutende Geländegewinne, während die NATO Luftangriffe gegen serbische Stellungen im Raum Sarajevo, Tuzla und Pale flog.
 
Das Friedensabkommen von Dayton
 
In dieser Situation unternahmen die USA über ihren Unterhändler Richard Holbrooke eine neue Friedensinitiative. Nach dem In-Kraft-Treten eines Waffenstillstands im Oktober 1995 trat in Dayton (Ohio) eine Friedenskonferenz zusammen, auf der die zerstrittenen Parteien ein Abkommen paraphierten, das am 14. Dezember desselben Jahres in Paris unterzeichnet wurde. Bosnien und Herzegowina blieben danach als Gesamtstaat mit der ungeteilten Hauptstadt Sarajevo, einem Parlament sowie unbeschränktem Personen- und Güterverkehr erhalten. Dieser Gesamtstaat trat jedoch einen erheblichen Teil seiner Kompetenzen an die beiden Einheiten (Entitäten), die Muslimisch-Kroatische Föderation und die Serbische Republik, ab. Der Ersteren wurden 51 Prozent des Gesamtterritoriums, der Serbischen Republik die restlichen 49 Prozent des Landes zugeschlagen. Der Vertrag erkennt die ethnischen Säuberungen nicht an und garantiert allen Flüchtlingen das Recht auf Rückkehr in ihre Heimat.
 
In Bosnien und Herzegowina wurde eine 60000 Mann starke internationale Friedenstruppe (Implementation Force, IFOR) unter Führung der NATO sowie unter Beteiligung russischer Einheiten stationiert, die die Umsetzung des Abkommens überwachen und notfalls unter Gewaltanwendung durchsetzen sollte. Die militärische Lage entspannte sich nun; es folgten umfangreiche Schritte zur Abrüstung der Kriegsgegner. Doch die Konflikte schwelten weiter, weil alle Krieg führenden Parteien bei der Umsetzung des Daytonabkommens ihre Positionen verbessern wollten. Das zeigte sich auch im Vorfeld der am 14. September 1996 abgehaltenen Wahlen zum dreiköpfigen Präsidium und zum Repräsentantenhaus der Republik Bosnien und Herzegowina, zum Repräsentantenhaus der Muslimisch-Kroatischen Föderation sowie zur Nationalversammlung der Serbischen Republik. Ende 1996 wurde die UNO-Friedensmission verlängert; der IFOR folgte die 34000 Mann starke SFOR (Stabilization Force). Gegen Ende der Neunzigerjahre verschärfte sich der ethnische Konflikt in Kosovo. Mit massierten militärischen Mitteln suchte Präsident Milošević in Kosovo die UÇK zu zerschlagen und löste damit eine wachsende Flucht der Kosovo-Albaner in die Nachbarländer aus. Unter dem Druck eines Ultimatums der NATO (Oktober 1998) stimmte Milošević einem Waffenstillstand und der Stationierung einer unbewaffneten Beobachtergruppe der OSZE in Kosovo zu. Unter schweren Ausschreitungen (Brandschatzungen, Vergewaltigungen) der serbischen Milizen und Polizeieinheiten gegen den albanischen Bevölkerungsteil setzte die jugoslawische Regierung jedoch ihre Politik der ethnischen Säuberung Kosovos fort. Nachdem sie im Gegensatz zur UÇK die Unterzeichnung des auf der Konferenz von Rambouillet (ab 6. Februar 1999) ausgearbeiteten Vertrags (weitgehende Autonomie für Kosovo und Stationierung von NATO-Truppen) dort abgelehnt hatte, suchte die NATO ab dem 24. März 1999, die jugoslawische Regierung durch Luftschläge gegen militärische und politische Schaltzentralen zur Aufgabe ihrer mit Kriegsbeginn verschärften Massenvertreibung der Kosovo-Albaner zu zwingen.
 
Prof. Dr. Holm Sundhaussen
 
Grundlegende Informationen finden Sie unter:
 
Jugoslawien: Vaterland der Südslawen
 
 
Calic, Marie-Janine: Der Krieg in Bosnien-Hercegovina. Ursachen, Konfliktstrukturen, internationale Lösungsversuche. Frankfurt am Main 21995.
 Glenny, Misha: Jugoslawien - der Krieg, der nach Europa kam. Aus dem Englischen. München 1993.
 Gutman, Roy: Augenzeuge des Völkermords. Reportagen aus Bosnien. Aus dem Englischen. Göttingen 21994.
 Meier, Viktor: Wie Jugoslawien verspielt wurde. München 31999.
 Rieff, David: Schlachthaus. Bosnien und das Versagen des Westens. Aus dem Englischen. München 1995.
 Sundhaussen, Holm: Experiment Jugoslawien. Von der Staatsgründung bis zum Staatszerfall. Mannheim u. a. 1993.

Universal-Lexikon. 2012.

Игры ⚽ Нужна курсовая?

Schlagen Sie auch in anderen Wörterbüchern nach:

  • Jugoslawien: Vaterland der Südslawen —   Während des 19. Jahrhunderts war das Ziel vieler nationaler Erwecker unter den Balkanslawen, alle Menschen mit einem südslawischen Idiom in einem gemeinsamen Staat zusammenzuführen. Mit der Gründung des Königreiches der Serben, Kroaten und… …   Universal-Lexikon

  • Jugoslawien — Ju|go|s|la|wi|en; s (früher): Staat in Südosteuropa (bis 1991/92). * * * I Jugoslawien,   nach dem Ersten Weltkrieg entstandener Bundesstaat in Südosteuropa, bestand bis 1991/92 und umfasste die Teilrepubliken …   Universal-Lexikon

  • Kommunistischen Machtergreifung in Jugoslawien — …   Deutsch Wikipedia

  • Zweiter Griechischer Bürgerkrieg — Dieser Artikel oder Abschnitt bedarf einer Überarbeitung. Näheres ist auf der Diskussionsseite angegeben. Hilf mit, ihn zu verbessern, und entferne anschließend diese Markierung …   Deutsch Wikipedia

  • Bosnischer Bürgerkrieg — In diesem Artikel oder Abschnitt fehlen folgende wichtige Informationen: Ein Abschnitt fehlt zu: Kriegsverbrechern (Ratko Mladić usw. siehe Kroatienkrieg); Völkerrechtlicher Unabhängigkeitsweg; Nachkriegssituation; Internationale Kritik an der… …   Deutsch Wikipedia

  • Griechischer Bürgerkrieg — Der Griechische Bürgerkrieg (griechisch Ελληνικός εμφύλιος πόλεμος, ellinikos emfylios polemos) begann im Juni 1946 und endete am 9. Oktober 1949. Er bezeichnet den Konflikt zwischen der linken Volksfront bzw. deren Demokratischer Armee… …   Deutsch Wikipedia

  • Elisabeth von Jugoslawien — Ex Prinzessin Elisabeth von Jugoslawien, Serbisch Kyrillisch Њ.К.В. Кнегиња Јелисавета Карађорђевић (* 7. April 1936 in Belgrad, Jugoslawien) entstammt dem ehemaligen regierenden Königshaus Karađorđević. Sie ist die Tochter von Prinzregent Paul… …   Deutsch Wikipedia

  • Jugoslawischer Bürgerkrieg — Unter Jugoslawischer Bürgerkrieg versteht man: die bewaffnete Auseinandersetzung zwischen verschiedenen politischen Gruppen während der deutschen und italienischen Besetzung des Königreiches Jugoslawien im Zweiten Weltkrieg, siehe Geschichte… …   Deutsch Wikipedia

  • Verschleppung von Kärntnern nach Jugoslawien 1945 — Im Mai 1945 kam es nach dem Einmarsch jugoslawischer Partisanen in das zu Österreich gehörende Kärnten zur Verschleppung von Kärntnern nach Jugoslawien. Österreichische Staatsbürger, denen man Zusammenarbeit mit den Nationalsozialisten vorwarf,… …   Deutsch Wikipedia

  • Völkermord — Massenmord; Ausrottung; Massenvernichtung; Genozid; Holocaust; Austilgung * * * Vọ̈l|ker|mord 〈m. 1〉 Vernichtung od. schwere Schädigung eines Volkes od. einer großen sozialen Gruppe; Sy Genozid * * * Vọ̈l|ker|mord, der: Verbrechen der Verni …   Universal-Lexikon

Share the article and excerpts

Direct link
Do a right-click on the link above
and select “Copy Link”